Das Hörensagen-Prinzip in der Wissenschaft
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Abweichend von der Regel, dass Aussagen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen von eigenen Beobachtungen und Logik gestützt sein sollten, gibt es einen beträchtlichen Anteil an Feststellungen, Deutungen und Vermutungen, die im wesentlichen nur unkritische Übernahmen von Dingen sind, die schon gesagt oder geschrieben wurden. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, denn der Fortschritt der Wissenschaft beruht auf der Nutzbarkeit der Ergebnisse früherer wissenschaftlicher Tätigkeit. Weil jedoch nicht alle Ergebnisse zuverlässig sind, ist es nicht überraschend, auf Wertloses zu treffen, das sich in der wissenschaftlichen Literatur durch Hörensagen fortschreibt.
Es wäre Zeitverschwendung, solche Beispiele zu sammeln und zu analysieren, aber die wenigen hier diskutierten Themen können auf das Übel aufmerksam machen, das mehr oder weniger die gesamte Wissenschaft zu befallen scheint.
Das Folgende kann als ergänzende Betrachtungen zu den Kapiteln "Fehldeutungen" und "Irrtümer" auf dieser Website angesehen werden.

Mineralabscheidung durch zirkulierende Lösungen
Manche Begriffe wurden so einprägsam gewählt, dass sie eine selbst-erklärende Wirkung zu entfalten scheinen. Der Begriff "zirkulierende Lösungen" wird oft so verwendet, als gehöre das Zirkulieren zum natürlichen Verhalten von Lösungen. Zirkulation braucht eine Triebkraft, z.B. eine Temperaturdifferenz. Warmes Grundwasser unter kaltem Wasser ist nicht im Gleichgewicht: Das kalte Wasser sinkt an einer Stelle ab und das warme kommt an anderer Stelle nach oben, kühlt ab und kann zusammen mit dem oben liegenden kalten Wasser eine zirkulierende Strömung in Gang halten. Minerale lösen sich in der Tiefe und scheiden sich oben ab. Diese Mineralabscheidung durch zirkulierende Lösungen wurde wiederholt übernommen, um die Bildung von Achat in Hohlräumen und von Feuerstein in der Kreide zu erklären, obwohl in diesen Fällen keine Ursache für Strömungen erkennbar ist.
Anscheinend waren die Vertreter der Idee zirkulierender Lösungen nicht mit dem fundamentalen Prozess der Diffusion vertraut und deshalb unfähig, sich Stofftransport ohne Strömung vorzustellen.
Transport mittels Diffusion erfolgt sowohl durch den festen Stoff hindurch als auch entlang der Oberfläche. Risse und Korngrenzen sind leichte Diffusionswege im Festkörper. Da die Diffusion in Flüssigkeiten schneller ist als in Festkörpern, wird in mit Flüssigkeit gefüllten Rissen Substanz transportiert, auch wenn die Flüssigkeit nicht fließt. (Trockene Risse wirken als Diffusionsbarriere in Querrichtung.)
Abschließend ist festzustellen, dass man den beliebten Begriff "zirkulierende Lösungen" vorsichtig gebrauchen sollte, weil er sonst dem Verständnis der wirklichen Vorgänge hinderlich ist.

"Gerichtete Explosionsdruckwelle" des Vulkanausbruchs
Das Flachlegen der Vegetation durch einen explosiven Vulkanausbruch wurde wiederholt mit einer "gerichteten Explosionsdruckwelle" erklärt. Dieser Begriff wurde vielleicht von Vulkanologen eingeführt, und weil er lebhafte Vorstellungen auslöst, gern von Geologen und Paläobotanikern übernommen, ohne an der Sinnhaftigkeit zu zweifeln. Zweifellos gibt es Druckwellen beim Vulkanausbruch: Man hört sie als Donner, denn Druckwellen in Luft sind Schall. Eine laufende Welle ist immer gerichtet, denn sie hat eine Ausbreitungsrichtung. Der unglücklich gewählte Begriff wurde manchmal verfeinert als "seitwärts gerichtete Explosionsdruckwelle", womit ein Phänomen gemeint ist, das sich nur an einer Seite des Vulkans auswirkt.
Ein Vulkan kann keinen Schallstrahl erzeugen, der schmal ist und so kräftig, dass er Schaden anrichtet. Der Schaden kommt auf ganz andere Weise zustande, durch ein lawinen-artiges Phänomen, das als pyroklastischer Strom bekannt ist. Man kann sich diesen vorstellen als eine schnell fließende heiße schwere Wolke aus versprühter Lava und Luft. Die starke Turbulenz der Strömung verhindert das Fallen der Tröpfchen und ermöglicht sogar die Aufnahme von Substanz vom Boden. Sobald die Strömung so langsam geworden ist, dass sie die Turbulenz nicht mehr genügend stark antreiben kann, um deren Verlangsamung infolge Reibung auszugleichen, setzen sich die Tröpfchen oder Ascheteilchen einfach ab, und übrig bleibt nur heißer Wind.
Wenn man eine Strömung als Welle bezeichnet, verhindert das ein Verständnis des Phänomens. Eine Welle läuft in Luft mit Schallgeschwindigkeit, aber eine Strömung kann beliebige Geschwindigkeit haben. Die Fließrichtung ist offenbar zunächst durch die Neigung des Berghanges festgelegt. Einmal in Bewegung, kann die schwere Wolke entsprechend ihrer Trägheit über größere Entfernungen und in unebenem Gelände auch bergauf laufen.
Die Strömung ist seitlich begrenzt, weil der Ausbruch niemals ganz symmetrisch bezüglich des Vulkankegels ist, und oft ist der Vulkan selbst nicht kegelförmig als Folge von Erdrutschen an den Hängen.
Es wurde wiederholt behauptet, eine "seitwärts gerichtete Explosionsdruckwelle" habe eine Seite des Mt. St. Helens abgesprengt, aber die Abfolge der Vorgänge war umgekehrt. Das Anschwellen des Berges als Vorbote des Ausbruchs löste einen gewaltigen Erdrutsch aus, was bei Vulkanen nicht ungewöhnlich ist. Dieser war die Ursache dafür, dass der Ausbruch und damit der pyroklastische Strom "seitwärts gerichtet" waren, was als "seitwärts gerichtete Explosionsdruckwelle" fehlgedeutet wurde.
Es erübrigt sich fast, hier abschließend zu sagen, dass man keine gerichtete Druckwelle braucht, um das Umwerfen von Bäumen nach Vulkanausbruch zu erklären.
(Siehe auch Vulkanismus and Fossilisation.)

Symmetrie der Sporangien paläozoischer Baumfarne
Symmetrie ist ein fundamentales Konzept in der Physik, aber nicht in der Biologie. Ein bekanntes Beispiel ist das Kleeblatt, das gewöhnlich aus 3 Blättchen zusammengesetzt ist, selten aus 4 oder mehr. Zwischen Blüten mit 4 gleichen Blütenblättern in symmetrischer Anordnung (mit 4 Spiegelebenen und einer 4-zähligen Achse) kann die gleiche Pflanze eine Blüte mit 5-zähliger Symmetrie ausbilden. 5-zählige Exemplare der Vierblättrigen Einbeere mischen sich unter die 4-zähligen.
Die Sporenkapseln des paläozoischen Baumfarns Scolecopteris elegans wachsen in Gruppen (Synangien) zu 3 bis 6, (sehr selten 7,) ohne auf Symmetrie zu achten. Die häufigsten 4-zähligen Synangien zeigen oft, wie eine 4-zählige Blüte, den Symmetrietyp des Quadrats, aber die Symmetrie der 5-zähligen ist meist auf nur eine Spiegelebene reduziert oder gar nicht vorhanden.
Auf 6-zählige Synangien mit der Symmetrie der 6 Punkte auf einem Würfel wurde der Begriff "bilateral symmetrisch" angewandt. Bilaterale Symmetrie bedeutet, dass mindestens eine Spiegelebene vorhanden ist, und da Spiegelebenen in vielen Anordnungen beliebig vieler Sporangien vorhanden sein können, ist dieser Begriff hier ungeeignet. Es ärgert den Leser, wenn er einem Begriff begegnet, der richtig aber trivial ist und so verwendet wird, als sei er nicht trivial.
Vielleicht ist es ein Wunsch nach Einfachheit, der dazu verleitet, das Wirken von Symmetrieprinzipien auch dort zu vermuten, wo sie nicht wirken. 3- oder 4-zählige Synangien haben oft eine 3- oder 4-zählige Drehachse. Das wurde zu dem Gedanken verallgemeinert, "radiale Symmetrie" sei eine natürliche Eigenschaft der Synangien. Folglich musste erklärt werden, warum die Wirklichkeit anders ist. Angeblich sollte gegenseitiges Bedrängen der Synangien die Unsymmetrie erzeugen, aber die genauere Betrachtung der Fossilien zeigt, dass
es auch bei genügend viel Platz schiefe Synangien gibt und dass die Symmetrie, wenn vorhanden, mehr zufällig ist.
Die Sporangien in den Synangien sind angeblich spindelförmig, offensichtlich sind sie es aber nicht. Ihr Querschnitt ist nicht kreisförmig, er hat zwei ebene Seiten mit 120° oder 90° zueinander bei 3- oder 4-zähligen Synangien. Außerdem sind sie nicht am Grunde befestigt, sondern seitlich. Trotzdem wird die Form der Sporangien mit der Zylindersymmetrie einer Spindel verglichen.
Man fragt sich, warum die Vorstellungen von radialsymmetrischen Synangien und spindelförmigen Sporangien bis jetzt in der paläobotanischen Literatur überlebt haben, obwohl die Wirklichkeit anders aussieht. Es gibt eine Erklärung: Um Ärger infolge Widerspruchs zu vermeiden, ist es ratsam, das zu wiederholen, was schon geschrieben steht, und wenn das nicht der Wirklichkeit entspricht, die Wirklichkeit als Abweichung von der Regel zu deuten: Die Enge hindert angeblich die Synangien, radialsymmetrisch zu werden, und die gegenseitige Berührung hindert die Sporangien, spindelförmig zu sein.
Mit Symmetrie zu beginnen und Gründe für die beobachteten Abweichungen zu suchen ist ein geeigneter Zugang, wenn man über Kristallformen spricht. Bei dem oben behandelten Problem der Charakterisierung von Pflanzenarten anhand der Form und Anordnung von Organen ist es ein unnötiger und ablenkender Umweg, den manche gehen, die dem Hörensagen-Prinzip folgen.

Verwunderliche Angleichungen oder keine Milben-Koprolithen
Als Paläontologen in den 1990er Jahren bemerkten, dass die winzigen dunklen Klumpen, die man oft in geschädigtem Gewebe fossiler Pflanzen sieht, größenmäßig zu Hornmilben passen, schien es mangels anderer Erklärungen eine gute Idee zu sein, die Hypothese von den Hornmilben-Koprolithen zu propagieren, obwohl die Milben unauffindbar waren. Man konnte damals hoffen, dass diese früher oder später sich zeigen werden. Die Hypothese verbreitete sich durch Weitersagen, während Beobachtungen sich anhäuften, die zu Zweifel Anlass geben müssten: Man fand die Klumpen in winzigen Hohlräumen, in die keine Milbe gekrochen sein konnte, und niemals sah man eine Milbe. Klumpen in zwei verschiedenen Größen im gleichen Fundstück deutete man als Beleg für die Anwesenheit zweier Arten.
Hätte man nicht nur auf die Klumpen geguckt, sondern auf die Umgebung, so hätte man sehen können, dass die Klumpen oft so groß sind wie die Zellen. Meist kann man zu jedem Klumpen nahebei ein geschädigtes Gewebe mit passender Zellengröße finden. Sogar die Formen der angeblichen Koprolithen können denen der Zellen des "gefressenen" Gewebes gleichen. Es gibt polygonale Formen mit einem oder zwei spitzen Winkeln: wahrlich seltsame Koprolithen, wie eine unerklärliche Angleichung von Milbenkot und Milbenfutter.
Ungeachtet dieser Tatsachen halten manche Paläobotaniker unerschütterlich die Koprolithen-Hypothese aufrecht, wobei sie manchmal die Hornmilben durch "unbekannte Tiere" oder "neue Detritusfresser" ersetzen, während andere die Sache anscheinend nicht mehr gern erwähnen und hoffen, die Hornmilben-Koprolithen mögen in Vergessenheit fallen.
Da die Koprolithen nun ausgeschlossen sind, müssen die Klumpen anders gedeutet werden: Das geschädigte Gewebe mit Klumpen ähnelt mancher modernen Holzfäule.
Zwecks Vollständigkeit sei hier erwähnt, dass es von den fehlgedeuteten Klumpen mehr als einen Typ gibt: Manche sind im wesentlichen kugelig, andere füllen den Querschnitt der Zelle aus, werden dabei kantig
und bleiben so nach dem Zerfall der Zellwand, oder sie dehnen die Zelle und sind schließlich größer. Nun muss nur noch der Verursacher gefunden werden, und man kann sicher sein, dass es kein Tier ist.

H.-J. Weiss     2013

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