Forschung auf Abwegen -
Gedanken zur Eigendynamik
Eigendynamik basierend auf Rückkopplung hält Vieles in Bewegung, auch
den Wissenschaftsbetrieb. Das ist gut so, aber riskant, denn es
schließt kuriose Fehlentwicklungen nicht aus.
Ein Wissenschaftler, ausgestattet mit mittelmäßiger Beobachtungsgabe,
erklärt eine Beobachtung mit einer vermeintlich schlauen Idee. Mangels
eigener Ideen greifen Andere die Idee gern auf und verbreiten diese in
renommierten Zeitschriften. (Die Gutachter sind oft nicht sehr
kritisch, um sich, der Redaktion und den Autoren möglichst wenig Ärger
zu bereiten.)
Nach dem Erscheinen erster Veröffentlichungen zum Thema können die
Autoren sich nun wechselseitig zitieren, was die Glaubwürdigkeit
aufbessert. Auf diese Weise zum "Stand der Wissenschaft" erhoben, und
mit eingebauten Bezügen zu Umwelt und Klimawandel, eignet sich dieses
neue "Forschungsgebiet" dazu, Projektanträge zu begründen. Weitere
Interessenten gesellen sich unkritisch hinzu, und weil das
Spezialwissen den Kreis der Eingeweihten nach außen abschirmt, können
alle Insider sich unbeobachtet fühlen und ihre Forschung ungestört
weltweit ausbreiten. Sie scheuen kritische Blicke und Fragen, und sie
reagieren darauf solidarisch mit Abwehr und mit der zur Schau
gestellten Überzeugung, die bewilligten Forschungsgelder seien ein
Beweis für die Sinnhaftigkeit ihres Tuns.
In einer Zeit, wo
die viel gepriesene Selbstreinigungskraft der Wissenschaft erlahmt ist,
kann man nicht erwarten, dass innerhalb der solidarischen Gemeinschaft
der Bezieher von Forschungsgeldern jemand den Mut aufbringt, an der
Idee zu zweifeln, die ihn ernährt. Deshalb sind solche Strukturen
scheinbar stabil, aber wenn man die Basis wegnimmt, die angeblich
schlaue Idee am Anfang, bricht das Konstrukt der angeblichen
Forschungsergebnisse restlos zusammen.
Der hier
beschriebene
Ablauf mag Manchem unglaublich erscheinen, lässt sich aber mit Fakten
belegen.
Dafür besonders geeignet ist ein Beispiel aus der Paläobotanik, die
weltweite
Forschung zu "Hornmilben-Koprolithen" im Kieselholz. Das Phänomen des
angeblichen fossilen Milbenkotes ist übersichtlich, lehrreich und auch
für
Laien leicht verständlich darstellbar [1]. Ungeachtet klarer
Gegenargumente
pflegen die Wissenschaftler ihr vertrautes Thema mit neuesten
Veröffentlichungen
[2,3].
Um
die Wissenschaft von Fehlentwicklungen der beschriebenen Art zu
reinigen, müssen die Zweifel von außerhalb der Interessengemeinschaft
kommen, und der Glaube an eine falsche Grundidee muss gegen den
Widerstand der oft einflussreichen Befürworter zerstört werden. Das ist
eine schwere Aufgabe, denn die betreffenden Wissenschaftler verstecken
sich lieber hinter Veröffentlichungen und Zitaten, als
Vernunftargumente zur Kenntnis zu nehmen, oder sie flüchten sich in
Überheblichkeit oder Beleidigtsein, um Diskussionen auszuweichen.
Wie
wird man später die kuriosen Fehlentwicklungen in der Wissenschaft
beurteilen ? Man wird die Namen derer nennen, die dazu
beitrugen:
Jene, die solche Entwicklung unvorsichtig auslösten, jene, die diese
durch blinden Eifer beschleunigten und verbreiteten, und jene, die
durch dankend erwähnte "Diskussionen und Hinweise" oder gefällige
Gutachten dabei halfen, anstatt zu Vorsicht und kritischem Überdenken
zu raten.
Man wird auch berichten, welche Aufmerksamkeit und
Ausdauer erforderlich waren, um immer wieder neue Veröffentlichungen
als Fehldeutung zu enttarnen und deren Autoren schließlich so zu
verunsichern, dass sie nachdenken und den leichtfertig beschrittenen
Irrweg verlassen. Außerdem wird man vor den Irrtümern warnen, die
unwidersprochen sich in der Fachliteratur angehäuft haben, denn kaum
einer der Autoren, die aus falschen Voraussetzungen Schlussfolgerungen
gezogen haben, hat diese später für ungültig erklärt.
Wenn
Studenten in der Fachliteratur auf eine falsche Schlussfolgerung
treffen, ohne diese als solche zu erkennen, dann ist das nur ärgerlich,
aber alle leichtsinnig begangenen Fehler zusammen genommen wirken wie
Morast auf dem Wege des wissenschaftlichen Fortschritts.
Ein
vergleichsweise harmloses Beispiel für eine unbegründete
Schlussfolgerung besteht darin, die Hornmilben und "deren herausragende
Rolle ... in terrestrischen Ökosystemen des Perms" [2,3] zu
propagieren.
Die angeblichen Koprolithen nicht vorhandener
Hornmilben eignen sich als warnendes Beispiel für eine Rückkopplung,
die einen anfänglichen Irrtum zu einem weltweit bearbeiteten
Forschungsthema verstärkt.
[1] www.chertnews.de (deutsche Version wählen),
Fossil Wood News 23,
24,
Rhynie Chert News 85
[2] R. RÖßLER, R. KRETZSCHMAR, Z. FENG, R. NOLL: Fraßgalerien
von
Mikroarthropoden in Koniferenhölzern ...
Veröff. Mus.
Naturkunde Chemnitz 37(2014), 55-66.
[3] Z. FENG, J.W. SCHNEIDER, C.C. LABANDEIRA, R. KRETZSCHMAR,
R.
RÖßLER: A specialized feeding habit
…
Palaeogeography,
Palaeoclimatology, Palaeoecology 417(2015), 121-124.
H.-J. WEISS
2015
Ergänzung 2016
2015 wurde diese Betrachtung unter Paläontologen
verteilt, auch unter Leuten, die den Wissenschaftsbetrieb und
dessen Tendenz zu gelegentlichen Irrwegen
interessant finden.
Das Bild war zur European Palaeobotany Palynology
Conference 2014 und in einer zugehörigen Ausstellung im Rathaus von
Padua gezeigt worden, mit dem Text (engl. im Original):
"Vorsicht! Ventarura
beobachtet dich. Das soll Paläobotaniker
dazu anregen, so sorgfältig zu arbeiten, als würden sie beobachtet."
Diese Warnung
wurde ebenfalls verteilt, als ein kleiner Teil der wiederholten
Bemühungen seit 2007, die
Hypothese von den Hornmilben-Koprolithen im
Kieselholz, eine unter
Paläobotanikern weltweit verbreitete Idee trotz niemals gesehener
passender Milben, zu widerlegen,
auch mittels Spott, wenn
Vernunftargumente ignoriert werden. Die Mühe ist anscheinend
nicht vergeblich
gewesen, zumindest im Naturkunde-Museum
Chemnitz: Eine umfangreiche Veröffentlichung von 2016 [4] zum
Unter-Perm von
Chemnitz nennt alle gefundenen wirbellosen Tiere und einige Kriechspuren,
erwähnt aber nicht die Hornmilben und deren Kot, obwohl diese seit vor 2000
und
noch bis 2015 Gegenstand von Veröffentlichungen zu permischen Kieselhölzern waren [2,3].
Aus
Erfahrung kann man voraussehen, dass die irrtümlichen
Veröffentlichungen zu Kieselholz mit Kot von Hornmilben nicht
zurückgezogen
oder für falsch erklärt werden. Sie werden einfach nicht mehr erwähnt
und bleiben in der Fachliteratur, wo sie, zusammen mit vielen anderen
Fehlern und Widersprüchen, interessierte Leser abschrecken. Das
betrifft z.B. auch schwarze verkieselte Baumstämme, die in Chemnitz
irrtümlich als verkieselte Holzkohle
ausgestellt sind.
[4] L.
LUTHARDT, R. RÖßLER, J.W. SCHNEIDER: Palaeoclimatic and size-specific
conditions in the early Permian fossil forest of Chemnitz ...
Palaeogeography,
Palaeoclimatology, Palaeoecology 441(2016), 627-652.