Oberflächenspannung
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Oberflächenspannung ist, ähnlich wie Diffusion, eine der alltäglichen Erscheinungen, mit denen man intuitiv umgeht. Man muss nicht darüber nachdenken, außer wenn man spezielle Strukturen
verstehen will, z.B. in Hornsteinen und Fossilien, die durch die Wirkung der Oberflächenspannung während der Verkieselung zustande kamen.
stung bubble
Abb.1: Sumpfgasblase, eingezwängt zwischen im Sumpf liegenden Sprossen von Trichopherophyton, der borstigen Pflanze im Hornstein von Rhynie (Unter-Devon). Man sieht, dass eine spitze Borste durch die Oberfläche der Blase sticht, wobei beide verformt werden: nicht wichtig, aber instruktiv. Die Deformation der Borste kann durch die Druckkraft in Längsrichtung verursacht sein, die als Reaktion der deformierten Oberfläche entsteht. Das wäre ein fossiler Beleg dafür, dass die Oberflächenspannung auch Anderes bewirken kann als Oberflächen von Flüssigkeiten zu formen: ohne paläontologischen Wert, aber anschauliches Beispiel für die Kraftwirkung der
Oberflächenspannung. Entgegen gelegentlich noch anzutreffenden Vorstellungen sind waagerechte Chalzedon-Bänder wie in dieser Blase kein Hinweis auf einen Wasserspiegel während der Verkieselung.

Die Wirkungen der Oberflächenspannung sind allgemein bekannt: Sie hat die Tendenz, Tropfen, Seifenblasen, Luftblasen in Flüssigkeiten etc. in Kugelform zu ziehen. Der Begriff erklärt sich nicht selbst und wird oft nicht richtig verstanden, zuweilen sogar von Physikern. Was Oberflächenspannung bedeutet, kann mit einem Gedankenexperiment veranschaulicht werden, das man auch wirklich durchführen kann.

Man stelle sich einen quadratischen Rahmen aus dünnem Draht vor, mit einer dünnen Schicht Seifenwasser darin aufgespannt. (Warum Seifenwasser sich für diesen Zweck viel besser eignet als reines Wasser ist nicht leicht zu erklären und hier nicht wichtig. Die Seifenhaut bildet sich einfach durch kurzes Eintauchen.)
Die Anwesenheit und Stärke einer Zugkraft der Haut zeigt sich darin, dass sie die Seiten des Rahmens nach innen zieht oder alles zu einem wirren Knäuel zusammen zieht, wenn der Draht sehr dünn ist. Die Zugkraft kann gemessen werden, indem man die Seiten des Rahmens nach außen zieht, bis sie wieder gerade sind. Man findet, dass die erforderliche Kraft proportional zur Seitenlänge des Rahmens ist. Deshalb wird die Spannung der Flüssigkeitsschicht praktischerweise als Kraft pro Länge quantifiziert. Da die Schicht zwei Oberflächen hat, ist die Oberflächenspannung der Flüssigkeit halb so groß wie die gemessene Spannung der Schicht.

Die Logik der Argumentation ist bis hierher noch nicht vollständig. Es muss bewiesen werden, dass die Zugkraft allein von den Oberflächenschichten erzeugt wird und nicht auch von der variablen Menge des dazwischen eingeschlossenen Wassers. Man findet, dass die Kraft nicht von der Menge des eingeschlossenen Wassers abhängt und folglich ein Oberflächeneffekt ist. (Deshalb wäre es nicht nützlich, die Oberflächenspannung als eine Zugspannung im üblichen Sinne zu quantifizieren, also als Kraft pro Querschnittsfläche der Schicht.)

Eine weitere wichtige Eigenschaft von Flüssigkeitsoberflächen wurde im Gedankenexperiment vorausgesetzt: Anders als elastische Membranen, deren Spannung bei Dehnung steigt und bei Entlastung verschwindet, behalten Flüssigkeitsoberflächen ihre Spannung, unabhängig von jeder Änderung der Fläche. Das ist möglich, weil bei Veränderung der Fläche Moleküle aus dem Innern an die Oberfläche kommen oder umgekehrt, so dass deren Zustand immer gleich bleibt. Folglich behält die Oberfläche immer die gleiche Tendenz, so klein wie möglich zu werden, was kugelige Tropfen und Blasen gibt, wenn die Formung nicht behindert ist. Anders gesagt: Wenn aus einem Luftballon die Luft entweicht, sinkt die Spannung des Gummis auf Null. Wenn man aus einer Seifenblase die Luft langsam durch einen Strohhalm ablässt, bleibt die Oberflächenspannung unverändert (woraus folgt, dass der Innendruck steigt).

Obwohl das oben erläuterte Konzept der Oberflächenspannung als Kraft pro Länge geeignet ist, die Formen von Flüssigkeitsoberflächen verständlich zu machen, ist es erwähnenswert, dass Kraft pro Länge hier gleichbedeutend ist mit Energie pro Fläche. Diese Oberflächenenergie ist in den Moleküle
n gespeichert, die an der Oberfläche liegen und deshalb weniger fest an ihre Umgebung gebunden sind als die Moleküle im Innern. Sie war beim Erzeugen der Oberfläche hinein gesteckt worden und ist nun verfügbar, um etwas zu bewegen, z.B. um die Flüssigkeit in die Gleichgewichtsform zu ziehen oder um den Rahmen zu verbiegen. Da die Oberflächenenergie pro Fläche als eine Eigenschaft der Flüssigkeit angenommen werden kann und deshalb unabhängig von der Fläche ist, wird verständlich, warum die äquivalent Größe, die Oberflächenspannung, auch unabhängig von der Fläche ist.

Das Phänomen der Benetzung, das von großer praktischer Bedeutung ist, soll hier nur kurz erwähnt werden. Die Physik der Benetzung verlangt eine Verallgemeinerung des Konzepts der Oberflächenspannung auf die Oberfläche fester Stoffe und auf die Grenzfläche zwischen Festkörpern und Flüssigkeiten, wobei wieder die Vorstellung "Energie pro Fläche" nützlich ist, weil "Kraft pro Länge" hier nicht direkt messbar wäre. Eine Kombination dieser drei Materialeigenschaften gibt den Kontaktwinkel, eine leicht messbare Größe. Kontaktwinkel Null, verwirklicht mit Seifenwasser auf vielen festen Stoffen, bedeutet ideale Benetzung (was der Zweck der Seife ist). Einer idealen Nicht-Benetzung mit Kontaktwinkel 180° kann man mit besondern flüssigkeitsabweisenden Oberflächen nahe kommen.

Es hängt u.a. vom Kontaktwinkel ab, wie weit eine Flüssigkeit in einem engen Rohr (Kapillare) nach oben oder unten gezogen wird, daher die Bezeichnung "Kapillarkraft" für Oberflächenspannung. (Es ist ein immer wieder erzähltes Märchen, dass Wasser mittels Kapillarkraft in die Baumwipfel gelangt. Manchmal wird versucht, die dabei auftretenden Widersprüche mittels aufwendiger Gedankenkonstruktionen zu umgehen. Warum solche Versuche vergeblich sind, soll an anderer Stelle auf dieser Website erklärt werden.)

Es ist eine der trivialsten Auswirkungen der Oberflächenspannung, dass kleine benetzbare Dinge zusammen kleben, wenn sie nass sind. Weniger bekannt weil selten beobachtet ist eine andere Auswirkung: Unter Wasser festgehaltene Blasen schieben benetzbare Dinge beiseite, wenn sie z.B. durch Ansammlung von Sumpfgas
wachsen. (Nicht benetzbare Dinge würden in die Blasen hinein gezogen.)

Rhynia cross-sections between swamp gas bubblesGelegentlich sind im Hornstein Anordnungen von Pflanzenteilen zu finden, die von solcher Auswirkung der Oberflächenspannung beeinflusst sind. In frühen Stadien der Verkieselung können Sumpfgasblasen im weichen Kieselgel zwischen den Pflanzen stecken bleiben. Pflanzenteile können von den Blasen verschoben und so fixiert werden. Wenn später das Gas durch Diffusion verschwindet, füllen sich die Blasen mit Wasser und werden schließlich auch zu Gel und Chalzedon, so dass die Ursache der Verschiebung nicht leicht erkennbar ist.

Abb.2: Sprosse von Rhynia, oben und unten bedrängt von Sumpfgasblasen, hier ohne besondere Auswirkung. Nach der Füllung der Hohlräume mit Wasser wuchsen darin Pilzfäden, bevor alles zu Kieselgel und schließlich zu Chalzedon wurde.


Die Kapillarkraft ist für kleine Tiere eine bedrohliche Naturgewalt. Kleine Tiere brauchen nicht darauf zu achten, dass sie nicht stolpern und fallen, aber sie müssen sorgfältig vermeiden, nass zu werden, um nicht Gefangene eines Wassertropfens zu werden.
Was in diesem Zusammenhang mit "klein" gemeint ist, lässt sich mit ein wenig Wasser erklären, das auf einem Tisch verschüttet wurde: Kleine Tropfen sind nahezu Kugelkappen, breite Tropfen sind oben flach, und keiner ist höher als ca. 4mm. (Eine Grafik bei Wikipedia ist nicht hilfreich, weil 3 Tropfen mit unterschiedlichen Volumen und Kontaktwinkeln dargestellt sind und die flache Oberseite breiter Tropfen nicht angedeutet ist.) Diese Höhe von ca. 4mm ist ein geeignetes Vergleichsmaß für eine grobe Unterscheidung zwischen klein und groß im Zusammenhang mit Wirkungen der Oberflächenspannung des Wassers.


Als eine plausible, aber oft doch nicht beachtete logische Konsequenz folgt, dass es in "kleinen" Hohlräumen keinen Wasserspiegel geben kann, denn die Wasseroberfläche ist krumm in Situationen, wo die Oberflächenspannung stärker wirkt als die Schwerkraft. Waagerechte Chalzedon-Bänder (eigentlich Schichten) in kleinen Höhlen können also nicht an einem Wasserspiegel entstanden sein. Sie entstanden an den ebenen Grenzflächen abgesetzter Suspensionen von SiO2 -Clustern in wassergefüllten Hohlräumen.
level bands inside hollow conifer needles
Abb.3: Horizontale Ebenen in hohlen Koniferennadeln waren keine Wasserspiegel. In so kleinen Höhlen würde die Luft von der Oberflächenspannung des Wassers in eine kugelförmige Blase gezwungen. Unter-Perm, Döhlener Becken.

Kleine Tiere haben komplizierte Mittel erfunden, um sich trocken zu halten, gewöhnlich eine wachsartige Beschichtung mit Wasser-Kontaktwinkel über 90°, kombiniert mit einer strukturierten Oberfläche mit eng stehenden kleinen Erhebungen, Rippen, Borsten, Haaren, etc., wobei die Flüssigkeit nur die Spitzen berührt. Das gibt eine gemittelte Grenzflächenenergie, die viel kleiner sein kann als die lokale, und damit einen effektiven Kontaktwinkel, der viel größer ist als der lokale, was eine viel besser wasserabweisende Wirkung hat als eine Oberfläche ohne Strukturierung.

Der richtige Umgang mit Flüssigkeiten ist für Spinnen und deren Verwandtschaft eine der wichtigsten Fähigkeiten. Sie müssen beim Fressen mit klebrigen Tropfen hantieren können, ohne sich zu besudeln. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass einige oder sogar die meisten der Anordnungen von Rippen, Borsten, etc. an den Fresswerkzeugen mancher Arthropoden [1], die gewöhlich als Filter gedeutet werden, keine solchen sind. Sie könnten hoch wirksame Hilfen beim sicheren Umgang mit Flüssigkeiten sein.
 
nematophyte, cross-section of aligned tubes in gelFadenförmige Pflanzen, wie watteartige Süßwasseralgen, fallen völlig zusammen, wenn man sie aus dem Wasser nimmt.
Nematophyten, die "Fadenpflanzen", jetzt als "Rätselhafte Organismen" eingeordnet [2], schützen sich anscheinend bei trocken fallendem Lebensraum auf eine besondere Weise sowohl vor Vertrocknen als auch vor dem Kollaps durch Oberflächenspannung: Sie leben in einem Klumpen aus organischem Gel.

Abb.4: Nematophyt: Fäden in Gel, anscheinend als Schutz gegen Austrocknen und Kollaps bei zeitweise trockenem Lebensraum. Rhynie Chert, Unter-Devon.

H.-J. Weiss     2013

[1]   J.A. Dunlop, S.R. Fayers, H. Hass, H. Kerp:  A new arthropod from the early Devonian Rhynie chert, Aberdeenshire (Scotland),
        with a remarkable filtering device in the mouthparts. Paläontol. Z. 80(2006), 296-306.
[2]  T.N. Taylor, E.L. Taylor, M. Krings: Paleobotany, Elsevier 2009.

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