Der Hornstein von Rhynie hat bekanntlich schon manche
Entdeckung geliefert, aber diese hier ist eine der am wenigsten
erwarteten. Die bisher einmalige Szene zeigt, wie ein Rädertierchen
sich einer
kugelförmigen Alge (?) nähert, die grob betrachtet an eine Volvox-Kugel
erinnert. Heutige
Rädertierchen überfallen Volvox-Kugeln
und
fressen einzelne Zellen heraus. Aus dem Bild kann man schließen, dass es diese Ernährungsweise seit mindestens 400
Millionen Jahren gibt.
Bild: Ältestes jemals gefundenes Rädertierchen
beim Überfall auf eine kugelförmige Alge:
"Momentaufnahme" aus dem Wasserleben im Unter-Devon,
ermöglicht durch schnelle Bildung von Kieselgel im flachen Wasser;
Größe der Kugel 0.14mm;
Aufnahme: H. Eschrich,
Carl Zeiss MicroImaging GmbH.
Die Einordnung dieser Kugel in das System ist problematisch. Es gibt
nur wenige Arten kugelförmiger Kolonien unter den zahlreichen
Grünalgen, Goldalgen und sogar unter den ganz anderartigen Blaualgen
(Cyanobakterien). Eine Deutung als Volvox-Kugel, die ein erster Blick
auf diese Szene nahelegt, entfällt aus folgenden Gründen: Rezente
Volvox-Kugeln sind hohl, die kugelförmige Meeresalge Eovolvox
silesiensis aus dem Ober-Devon ist es auch [1], aber diese
Kugel ist es nicht. Die Zellen der Volvocaceen sind
durch Plasmafäden miteinander verbunden, die auch in Lageniastrum
macrosporae aus dem Karbon vorhanden sind [2], aber bei
dieser Kugel sind keine Verbindungen erkennbar. Eine Zuordnung zu den Blaualgen ist in Betracht zu
ziehen [3,4].
Die Schnittebene geht durch die Mitte der Kugel, so dass die Außenhülle
deutlich im Querschnitt zu sehen ist. Aus der Verteilung der Zellen
kann man auf ca. 500 in der ganzen Kugel schließen.
Das Rädertierchen ist das einzige von Rhynie bekannte Exemplar.
Die ältesten bisher bekannten Rädertierchen [5] wurden in
Tertiär-Bernstein gefunden (*). Die deutlichen Merkmale des
vorliegenden
Exemplars und das sehr hohe Alter verglichen mit allen anderen
Rädertierchen berechtigen dazu, es als eine neue Art zu betrachten.
Das Rädertierchen liegt hier schräg zur Schnittebene. Eine vorhandene
Bilderserie, von H. Eschrich
mit
konfokaler Technik aufgenommen, ermöglicht eine räumliche
Rekonstruktion.
Die dramatische Szene mit Rädertierchen und Kugel spielt
sich zwischen überfluteten und zersetzten Landpflanzen ab,
wahrscheinlich Rhynia.
Anscheinend blieb der Überfall erfolglos wegen schneller Bildung von
Kieselgel, wodurch das Rädertierchen stecken blieb, bevor es der Alge
schaden konnte. Man kann sogar sagen, wie es weiter ging: Das
aggressive Tier musste verhungern, aber die friedliche Alge lebte
weiter im Gel, wo sie über Diffusion mit allem Lebensnotwendigen
versorgt war.
Es war ein extrem glücklicher Zufall, diese Szene an der polierten
Hornstein-Schnittfläche in nahezu optimaler Anordnung verewigt zu
finden. Man bedenke dass
- Trennen, Schleifen und Polieren ohne Kenntnis des
fossilen Inhalts erfolgte,
- die Schnittebene durch das Zentrum der Kugel
geht,
- das Rädertierchen nicht beschädigt wurde,
abgesehen von einem winzigen fehlenden Stück am Kopf,
- die beiden Organismen noch niemals einzeln
gesehen wurden.
Der unauffällige kleine Hornstein (90g)
wurde von Sieglinde
Weiss kilometerweit von der geschützten
Fundstelle entfernt gefunden.
Es bleibt zu hoffen, dass weitere Exemplare gefunden werden,
um diese
neuen Arten gründlich charakterisieren zu können.
H.-J. Weiss
2008
[1] J.
Kazmierczak: The biology and evolutionary significance
of Devonian volvocaceans and their Precambrian relatives.
Acta Palaeont. Polonica 26(1981),
299-337.
[2] M. Krings
et al.: Lageniastrum
macrosporae (fossil Volvocales, ...), an
endophyte in megaspores from the Carboniferous ...
Geobios 38(2005), 451-65.
[3] J.
Kazmierczak: private communication
[4] Robert Lee:
private communication
[5] B.M.
Waggoner, G.O. Poinar:
Fossil habotrochid rotifers found in Dominican amber.
Experientia (Basel) 49(1993), 354-7.
Anmerkung
2008: Der Überfall des Rädertierchens wurde zur 8. IOPC Conference,
Bonn 2008, präsentiert [6], außerdem auf der Website eines
befreundeten Freizeit-Paläontologen [7]. [6] H.-J. Weiss
: Two spherical algae of different design in
the Lower Devonian,
poster abstract: Terra Nostra 2008/2,
303.
[7] H. Steur
: http://www.xs4all.nl/~steurh/
* Anmerkung 2012: Die kürzliche Entdeckung gut erhaltener Rädertierchen
höheren Alters als jene in [5] wurde von N. Jha et al. [8] berichtet.
Offenbar ohne Kenntnis des bisher einzigen Exemplars aus dem Rhynie
Chert, nicht in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht,
betrachteten sie ihre als die ältesten fossilen Rädertierchen.
[8] N.
Jha, P. Kumar, N. Aggarwal, D.D. Bhattacharyya, A.C. Pande: The
oldest bdelloid rotifera from Early Permian sediments ...
Int. J. Geol. Earth Environm. Sci.
(Online) 1(2011), 23-29.
Anmerkung 2014: Was in [9] irrtümlich "Rädertierchen in Rhynie Chert" genannt wird, ist der Kleinkrebs Ebullitiocaris. Der Irrtum wurde in [10] angesprochen. [9] T.N. Taylor,
E.L.Taylor, M. Krings: Paleobotany, Elsevier 2009, Fig.1.57. [10] H.-J. Weiss: Rhynie chert - Implications of new finds, European Palaeobotany and Palynology Conference 2014, Padua.